Alexandra Deutsch  |call it anything...

Vernissage:  Mittwoch, 6. Juni 2018, 19.00 Uhr

Ausstellungsdauer: 7. Juni - 14. Juli 2018

Das Deutsch-Biotop
Ein phantastisches Samt- und Sondervergnügen
  
Rapunzelhaar, feuerrot oder pechschwarz, bis zu drei Meter lang, den Boden bedeckend, ins Erdreich drängend - wie Wurzelwerk. Kaskadenartig ergießt es sich förmlich in den Raum. Aufgepeppt – Extensions? - wulstig verdichtet, dann zu feinen Rinnsalen ausgedünnt, so scheint es, wuchert da etwas, dessen Aggregatzustand eine Frage der Lesart ist. „Raíces Rojas“ und „Raíces Negras“: Blutstrahl oder Schwarze-Galle-Sekretion? Samenkapseln, die sich lösen ihrer biologischen Bestimmung gemäß, Regenwaldflora oder Unterwasserfauna, Strähnenlabyrinth, eingedickter Körpersaft, Dschungelkunst? Alles ist richtig. Und nichts gewiss.
 
Der Assoziationsreichtum, der sich mit den Wurzelobjekten von Alexandra Deutsch verbindet, prädestiniert sie für die interpretative Aneignung im aktionskünstlerischen Rahmen. Reiches Performancepotenzial wohnt den Arbeiten inne. Leicht findet das kollektive Gedächtnis Anknüpfungspunkte. Sobald die Skulptur zum künstlerischen Gebrauch bereitsteht, Tänzer mimisch und gestisch darauf eingehen, dramaturgische Spannung aufgebaut wird, folgt das außenstehende Ich dem Sog intimer Motive, erlebt mitgerissen Strukturen zeitlos verständlicher Metamorphosen mit Ovid-Bezügen, die das betrachtende Subjekt mit einbeziehen. Die Tänzerin hat sich in die Skulptur körperlich eingearbeitet, das Kunsthaar beginnt zu wehen, die Tentakel geraten in Bewegung, die szenische Entfaltung zieht das Publikum in Bann. Aktionistische Intervention macht aus der raumgreifenden Plastik, die für gewöhnlich von der Decke hängt, ein inszeniertes Gegenüber und wirkungsmächtiges Objekt zur Selbstbespiegelung, Selbstvergewisserung und psychologischen Selbsterfahrung. „Vollständig ist das Werk auch ohne Performance“, sagt Alexandra Deutsch, „doch die Bedeutungsebenen werden erweitert.“ Dabei ist die tänzerische Diktion nicht an eine bestimmte Mitteilung und den Transport einer eindeutigen Botschaft gebunden, vielmehr Niederschlag schöpferischer Anverwandlung und offen für Energiefreisetzung jeder Art: „Energetische Phasen finden ihren Ausdruck.“ Evident gleichwohl, dass die weibliche Welt ein zentrales Thema ist: Geschlechtlichkeit, Fruchtbarkeit, Versuchung, Aufschäumen und Verebben als Tanzfigur. In Alexandra Deutschs Performances kommt neben der botanisch allegorischen Komponente die weibliche Ikonographie buchstäblich zum Tragen - wie ein Kleid oder Zelt.
 
In Brasilien entdeckte die Künstlerin, die das Land 2005 als Stipendiatin des Instituto de Artes do Pará kennenlernte, Stoff als künstlerisches Material. Sie gehört derselben Generation wie Ernesto Neto an, teilt mit dem Bildhauer aus Rio de Janeiro das Interesse an klassischen Fragen der Skulptur in Verbindung mit haptischen Materialien, die in Bezug zum menschlichen Körper inszeniert werden. „Die Kunst entsteht zwischen Objekt und Mensch,  sie wird in ihm vollständig“, sagt Neto. Dasselbe gilt für die Arbeiten von  Alexandra Deutsch. Beide Künstler beschäftigen elementare Aspekte der Existenz - etwa die Schwerkraft und das Verhältnis von Körper und Gewicht -, Alexandra Deutsch betrachtet darüber hinaus die physische und psychische Verfassung aus dem Blickwinkel der Frau. Wie die riesigen Stoffplastiken des Brasilianers sind ihre Objekte auf die Sinneswahrnehmung ausgerichtet, jedoch stärker farbig und verästelt.
 
Die Auseinandersetzung mit weiblichen Attributen, mitunter mit unverhüllter Ironie vorgetragen und manchmal ins Bizarre überhöht, charakterisiert ihre surreal beeinflussten Schöpfungen. Sensuell erfahrbare Softobjekte sind es, die Alexandra Deutsch für ihre Performances einsetzt. Vom emanzipatorischen Anspruch des Surrealismus getragen, kommt dem Moment der Verwandlung in ihrem Oeuvre höchste Bedeutung zu. „Es entsteht ein neues Wesen“, sagt die Künstlerin. Wichtig sind Verkleidung und Enthüllung sowie der organische Faktor. Die mythologisch grundierte Metamorphose, das Verwirrspiel, Phantastisches und auch Abgründiges bekommen Raum. Am deutlichsten wird das, wenn einzelne Objekte im Performancezusammenhang formal über sich hinauswachsen, die Skulptur als wandelbare Werkform erscheint, der handelnde Umgang damit selbst Werk wird. Die interdisziplinär angelegte Formensprache nährt verschiedene Bedeutungsstränge: Figurenwelten und Werkgestalt sind im Deutsch-Biotop zugleich vorstellungsgebunden und interpretationsoffen. Nicht nur die großformatigen Raumobjekte werden vom Status des Artefakts scheinbar erlöst, entwickeln ein fiktives Eigenleben als fleischfressende Pflanzen oder Kreaturen mariner Lebensräume.
 
Unterdessen sind „Raíces Rojas“ und „Raíces Negras“ auch Rosenrot und Aschenputtel des Märchens, These und Antithese, Lebensquell und Todesfalle. Hochallegorisch und Einfallstor für Bildvergleiche komplizenhafter Exegeten. Die Wurzelobjekte stehen in einer langen kunsthistorischen Tradition. Die Schutzmantelmadonna des 13. Jahrhunderts steckt darin, die den Mantel ausbreitet für Schutzbedürftige. Ebenso die mythologische Bergnymphe Daphne, die sich auf der Flucht von Apoll in einen Lorbeerbaum verwandelt. Alexandra Deutsch etabliert Referenzen zur mittelalterlichen Ikonografie ebenso wie zu nicht christlichen außereuropäischen Kulturkreisen und animistischen Auffassungen, denen zufolge alle Natur heilig ist.
 
Vor 70 Jahren schuf Frida Kahlo „Raíces o El Pedregal“ ein Selbstbildnis, in dem sich die Malerin als Lebensbaum darstellt. Aus ihrer Brust wächst eine Pflanze, die Adern der Blätter sind wie Venen. Hier findet sich eine Nahtstelle zum Universum von Alexandra Deutsch. In der Entscheidung für textile Materialien als Gebrauchsskulptur und Handlungsansatz trifft sie sich mit Franz Erhard Walther. Ein halbes Jahrhundert ist es her, da begann der Aktionskünstler, der den auffallend textilaffinen Performancekünstler John Bock unterrichtet hat, die Arbeit an seinem 1. Werksatz. Mehrere Dutzend Objekte entstanden aus Stoffen und anderen Materialien - zum Gebrauch durch die Betrachter, die sie sich überstülpen konnten: „Handlung als Werkform“ lautete die Losung.
 
Alexandra Deutsch bezieht den Betrachter nur mittelbar ein. Eine Tänzerin ergreift in seiner Gegenwart Besitz vom Wurzelobjekt. Sie geht darin auf, schöpft Kraft, entdeckt ein zweites Objekt, trägt es offen vorm Bauch, paradiert ostentativ vorm Publikum, bewegt sich ekstatisch im Raum, rutscht über den Boden, springt, wirbelt herum wie ein Derwisch, sinkt nieder: Bilder von einem Vegetationszyklus gleichsam.
 
2007 arbeitet Deutsch erstmals mit Tänzern zusammen. Mit den Objekten „Ciliamare“, „Schwebende Form“ und „Carabó“ bestreiten sie eine Performance in Luxemburg. Sie findet ihre Fortsetzung in Kolumbien. In Medellin und Bogotá werden die Tentakelobjekte „Raíces Rojas“ und „Raíces Negras  Mittelpunkt von Performances. Später verwandelt Deutsch einen indischen Banyanbaum mit verschiedenartigen Objekten aus Stoff: Brautschleiern beispielsweise oder in religiösen Zusammenhängen verwendeten Textilien.
 
Ihr Farbempfinden, plastisches Denken und stoffliches Feingefühl lässt sie aber auch vom Gegenstand abstrahieren. Alexandra Deutsch transzendiert ihre Objekte, katapultiert sie an einen uneindeutigen Ort, wo das Verführungspotenzial des Organischen nicht nurmehr in der textilen Umsetzung zum Ausdruck kommt.
 
Sinnliche Reflexionen finden sich auch in den Objekten aus geschöpftem Papier. Einzellerphantasien, wie sie als Plankton im Meer Realität sind, inspirieren Wand- oder Bodenobjekte. Die Natur ist abermals Stichwortgeberin. Zahlreich die Parallelen. So braucht etwa die gallertartige Hülle der äußerst formenreichen gehäusetragende Foraminiferen, einzellige äußerst vielgestaltige Lebewesen, die der Wissenschaft als Leitfossilien dienen, eine schützende Verpackung  - wie Trüffelpralines.
 
Den stupenden vielkammerigen Gehäusen in der Natur setzt Deutsch ihre variantenreichen Kreationen aus Papier dialektisch entgegen – dem Anschein nach ein Reflex auf die natürliche Selektion. Der Natur als kreativster Schöpferin stellt sich die Serie „Organics“. Tentakel und Tubuli, Lamellen und Lippenformen, Stachel und Spalte, Fruchtstand oder Knospe treten prominent in Erscheinung - Insektenleibern und exotischer Vegetation abgeschaut. Kennzeichnend ist die leuchtende Farbigkeit - Hibiskusrot bis Papageiengrün: die Verwendung der Farben der Tropen für Formen wie im Traum.
 
Oft wirken die Gebilde zart und fragil - gerade so, als würden sie bei Berührung zurückzucken -, und Kleinplastiken erscheinen beseelt, auch ohne dass Performances Bewegungsspielräume eröffnen.
 
Der künstlerische Mikrokosmos, den Alexandra Deutsch entwirft, ermöglicht die Kontemplation, die das Korallenriff dem Taucher verweigert. Er umfasst auch nicht stoffliche Komponenten. Die Künstlerin arbeitet mit Textilien, Pigmenten, Papieren und Reiseeindrücken. Bei den Aufenthalten in Lateinamerika erfuhr ihre Arbeit entscheidende Impulse. Anfang 2012 floss substanzielle Indienerfahrung in neue Aufgabenstellungen. Vier Wochen lang hielt sich die Künstlerin im Norden des Landes auf. In Partapur, einem 10000-Einwohner-Dorf im Bundesstaat Rajasthan, lebte und arbeitete sie unter ungewohnten Bedingungen. Es gibt dort fließend Wasser, jedoch keine Dusche und nur zu bestimmten Zeiten Strom.
 
Ein Müllgürtel zieht sich um den Ort mit seinen bonbonbunten und architektonisch abwechslungsreichen Häusern. Man begegnet Frauen, die Wasser in Gefäßen auf dem Kopf transportieren wie in uralter Zeit. Ihre Garderobe nähen sie selbst.
 
Zu ihnen fand Alexandra Deutsch rasch Zugang. Die Handarbeiterin, die das Papier für ihre Objekte seit gut 20 Jahren selbst schöpft, begeisterten die handwerklichen Traditionen, bildnerische Fantasie und Lebensfreude der Inder. Es überraschten sie die Glitzerstoffe – umso mehr, weil die Lebensverhältnisse nach westlichen Maßstäben ärmlich sind.
 
Die Ursprünglichkeit der Lebenswirklichkeit in Partapur - „weit entfernt vom modernen Leben“, warf die Künstlerin auf sich selbst zurück und regte sie an: „Was auf den ersten Blick fasziniert, ist die bunte Vielfalt des ländlichen indischen Lebens. Frauen in grellen Saris, Gefäße auf dem Kopf tragend, bei ihrer Arbeit auf den Reisfeldern, in den vielen zur Straße offenen Läden oder Schneidereien. Männer am Straßenrand, Tee trinkend, in Werkstätten mit Stein, Keramik oder Metall arbeitend.“
 
Wo sich das Leben weitgehend auf der Straße abspielt, findet Deutsch sich wieder zwischen „Motorrädern mit ganzen Familien besetzt, Kamelkarren, Fahrrädern, Rikschas, überladenen Bussen. Mit Girlanden geschmückte Traktoren teilen sich hupend die Fahrbahn. Dazwischen in aller Gemütsruhe die heiligen Kühe, Ziegen, Hunde, Schweine.“
 
Die Dialektik eines Schwellenlandes. Grenzen werden fließend, baumwolllüstiges Treiben erreicht einen Höhepunkt, Körper vereinigen sich mit Fremdkörpern. Das Entdecken, Verbergen, Ekstase und Verletzlichkeit, Körperpräsenz und gleichnishafte Naturform finden zueinander, verschmelzen zu beredten Silhouetten. Und über allem blinkt die Gastfreundschaft wie der Silbermond. Etwas Unbestimmtes scheint dazu auf. Trotz Erdgebundenheit und Beschäftigung mit dem biologischen Formenschatz, begegnet am Ende der Wurzeln im Werk von Alexandra Deutsch – wenigstens rhizomhaft  - Spiritualität.

  
Dorothee Baer-Bogenschütz
https://www.alexandra-deutsch.de/text/

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